Je länger Putins Krieg gegen die Ukraine dauert, desto drängender stellt sich die Frage, wie Europas Politiker Wladimir Putin so falsch einschätzen konnten. Auch in der Amtszeit von Angela Merkel. FOCUS Online wollte die Alt-Kanzlerin damit konfrontieren – und erhielt eine bizarre Absage.
Kaum ein anderes Land im Westen hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Europa so enge Kontakte zu Russland wie Deutschland. Und kaum jemand hatte einen so speziellen und direkten Draht zu Putin wie Angela Merkel (CDU) in ihren 16 Jahren im Kanzleramt. Zu ihrem Abschied würdigte der Kremlchef 2021 noch Merkels „bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen“. An vielen wichtigen Entscheidungen in Sachen Russland hatte Merkel großen Anteil. Und diese wiederum spielen eine wesentliche Rolle für die Analyse, wie es überhaupt zum russischen Angriffskrieg und auch der Abhängigkeit des Westens von russischer Energie kommen konnte.
Das gilt zum Beispiel auch für das Abkommen „Minsk 2“. Merkel handelte es 2015 an der Seite des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Francois Hollande zwischen Wladimir Putin und dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko aus. Das Abkommen war ein breiter Maßnahmenkatalog, der den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nach der russischen Annexion der Krim auf politischem Weg sofort beenden sollte. Und sieben Jahre später in einem neuen, viel größeren mündete.
TASS Vladimir Putin und Angela Merkel bei einem Treffen im Kreml in Moskau
Kein Interview zum Ukrainekrieg, weil Merkel nicht mit allen sprechen kann?
FOCUS Online bat Merkel deshalb um ein Interview, um über ihre Russland-Politik zu sprechen und auch über mögliche Fehleinschätzungen.
Es folgte eine Absage von Merkels langjähriger Büroleiterin Beate Baumann. Die Absage überrascht dabei weniger, als es die Begründung tut: „Die Bundeskanzlerin a. D. erhält eine Vielzahl von Interview- und Medienanfragen jedweder Art aus aller Welt, denen sie schon aus Gleichbehandlungsgründen nicht entsprechen kann. Ich bitte um Verständnis, dass das auch Ihre Anfrage umfasst.“
Die Bundeskanzlerin a.D. gibt keine Interviews mehr, weil sie nicht mit allen sprechen kann, die mit ihr sprechen wollen? Das klingt absurd.Bernd von Jutrczenka/dpa/Archiv Hatten einen besonders engen Draht zueinander: Merkel und Putin.
Diese Fragen zum Ukrainekrieg will Merkel nicht beantworten:
Wir wollen unseren Lesern die Fragen nicht vorenthalten, die wir der ehemaligen Bundeskanzlerin in der Anfrage gestellt haben und gerne mit ihr diskutiert hätten. Und erläutern kurz, warum sie relevant sind für die politische Analyse.
Frage 1:
Frau Bundeskanzlerin a.D., Sie haben sich 2008 mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen eine Aufnahme der Ukraine in der Nato ausgesprochen. War Ihr “Nein“ aus heutiger Sicht ein Fehler?
Hintergrund: Viele Experten aus renommierten Forschungsinstituten glauben, dass der Ukrainekrieg durch den Nato-Beitritt der Ukraine 2008 hätte vermieden werden können. Doch Merkel war dagegen. Unter anderem, da sie Putin nicht reizen wollte. Doch klar ist: Wäre die Ukraine damals schon Mitglied geworden, wären die Nato-Staaten fortan verpflichtet gewesen, dem Land militärisch beizustehen. Hätte das Putin abgeschreckt?Foto: dpa Oftmals ein angespanntes Verhältnis: der russische Präsident Vladimir Putin und Bundeskanzlerin Merkel.
Frage 2:
Mit Sarkozys Nachfolger Francois Hollande haben Sie sehr engagiert im Ukraine-Konflikt vermittelt und 2015 das Folgeabkommen „Minsk II“ ausgehandelt. Gibt es gravierende Fehler, die Sie heute in dem Vertrag sehen? Was hat zum Scheitern des Abkommens geführt?
Hintergrund: Sowohl Moskau als auch Kiew hatten sich zur Erreichung eines Friedens diverser Ziele verpflichtet. Dazu zählte zum Beispiel auch eine beidseitige Lösung des russischen Minderheitenproblems in der Donbass-Region, die zu den Hauptkampfgebieten zählt. Doch warum hat dieses Abkommen den Krieg nicht verhindert?Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa Ukraine-Krieg
Frage 3
Mit „Minsk 2“ wurde der Ukraine zwar Zeit verschafft, die Armee aufzurüsten. Zugleich haben Sie damals aber Waffenlieferungen abgelehnt. Und die Tür für eine Aufnahme der Ukraine in die Nato blieb trotz der Annexion der Krim 2014 weiter offen. Viele sehen das als Brandbeschleuniger für den Krieg. Wie sehen Sie das heute?
Hintergrund: Einige Top-Militärs und Experten sagen, dass es ein schwerer Fehler gewesen sei, die Ukraine spätestens nach der Annexion der Krim weiterhin glauben lassen zu haben, sie habe reelle Chancen auf einen Nato-Beitritts. Hauptargument: Allein die USA hätten dies im Gegensatz zu 2008 nie zugelassen, weil dies nach der Annexion der Krim auf eine direkte militärische Konfrontation zwischen Russland und der Nato hinausgelaufen wäre. Russland, so die Meinung einiger Beobachter, sei durch diese Option provoziert worden. Allerdings wird das Argument, man sei provoziert worden, auch von der russischen Propaganda als Kriegsbegründung vorgeschoben. Was denkt Merkel dazu?
Frage 4
Mit dem Gaspipeline-Projekt „Nordstream 2“, das Sie bis zum Schluss Ihrer Amtszeit verteidigt haben, wäre die Abhängigkeit Deutschlands im Energiesektor von Russland noch größer geworden, als sie es ohnehin schon war. Sind Sie immer noch davon überzeugt, dass das Projekt keine geopolitische Bedeutung hatte?
Hintergrund: Sogar in ihrer eigenen Partei gab es mehrere Politiker, die Merkel für die vehemente Verteidigung von „Nordstream 2“ kritisierten. Besonders unerklärlich erscheint, wie Merkel, die als gewiefte außenpolitische Strategin gilt, darauf beharrte, es handele sich bei der Pipeline um ein „reines Wirtschaftsprojekt“.
Frage 5:
Es gibt führende deutsche Russlandexperten, die sagen, dass Sie durch Ihre Sozialisation in der DDR und Ihrem besonderen Draht zu Putin den russischen Präsidenten besser als alle anderen Staatschefs im Westen kennen. Wie erklären Sie sich, dass Putin Sie so täuschen konnte?
Hintergrund: Auch bei dieser Frage ist interessant, warum Merkel Bedenken gegen Putin aus der eigenen Partei in den Wind schlug. Und noch kurz vor Ende ihrer 16-jährigen Amtszeit schrillten die Alarmglocken: Die scheidende Bundesregierung soll nach Informationen des FOCUS schon im Oktober über Putins kriegerische Absichten informiert gewesen sein.