Familie Kalt hat bei der Ahrtal-Flut im Juli 2021 ihr Haus verloren. Dreieinhalb Jahre nach der Katastrophe ist noch immer keine einzige Rechnung für den Neubau bezahlt. Die Familie sitzt auf einem riesigen Schuldenberg und kritisiert das Land Rheinland-Pfalz scharf.
Als Melanie am Abend des 14. Juli 2021 mit den beiden schlafenden Kindern auf dem Arm auf die Straße tritt, hat sie noch einen weiten Weg vor sich: „Ich musste taktisch überlegen, wie ich die 20 Meter schaffe.“
Es ist stockduster. Das Wasser der Ahr walzt sich von unten wie in einem Horrorfilm nach oben auf die Bungertstraße im Dorfzentrum von Mayschoß, innerhalb von Sekunden steht es der damals 30-jährigen jungen Mutter hüfthoch.
Bekannte helfen ihr und ziehen sie in ihre Wohnung, nach endlos erscheinenden Minuten haben die drei es geschafft. Die damals ein und vier Jahre alten Söhne bekommen nichts mit, sie schlafen weiter. Melanie sieht noch schemenhaft, wie ihr Auto wegschwimmt, als sie sich und ihre Kinder in das Haus der Freunde rettet.
Einige Stunden zuvor, es ist ungefähr 19 Uhr, rennt Melanies Mann Dominik auf das Haus seiner Eltern in Mayschoß-Laach zu: „Rauf in die oberen Stockwerke, nehmt nur das Nötigste mit“, ruft er seiner Mutter Anette Kalt zu. Die packt eine Thermoskanne, Medikamente, Handy, Ladekabel, Portemonnaie und das Familienstammbuch und rettet sich mit ihrem Mann Josef auf den Speicher.
Dominiks Befürchtungen bestätigen sich: Schon am frühen Nachmittag des 14. Juli hatte der Feuerwehrmann gewarnt, dass „etwas Großes auf uns zukommt“. Jetzt geht es um Leben und Tod.
„Da habe ich realisiert, dass Menschen gestorben sind“
In den kommenden Stunden müssen Dominik und seine Eltern mitanschauen, wie ihr Haus an der Bundesstraße 13 im Wasser versinkt. Dominik, ein kräftiger 1,90 Meter großer Mann, tritt mit seinen schweren Feuerwehrstiefeln die Dachsparren ein, ein Notausgang für den Fall, dass die Ahr bis auf den Speicher steigt. Doch um 2 Uhr nachts fällt das Wasser. „Es blieben noch 50 Zentimeter“, erzählt Anette Kalt (58). Das Haus war ihr ein und alles. Sie hat nie woanders gelebt, „das Ahrtal ist meine Scholle“, sagt die ehemalige Altenpflegerin.
Anette Kalt In den Flut versunken: Das Haus der Familie Kalt am 15. Juli 2021.
Es stammt aus dem Jahr 1804, dem Jahr der anderen Jahrtausendflut an der Ahr, und blieb seitdem im Familienbesitz; in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts war es mal eine beliebte Straußwirtschaft. Sie hatte keine Ersparnisse, keine Rücklagen. „Das Haus war mein Erbe.“
Dieses Erbe und alles, was damit zusammenhängt, lastet bis heute schwer auf Anette Kalt und ihrer Familie. Es droht sie zu erdrücken. Finanziell und emotional. Verantwortlich ist der deutsche Staat mit seiner überbordenden Bürokratie, seinen überlasteten und weithin überforderten Mitarbeitern, die den Bürgern lieber mit Argwohn und Misstrauen begegnen, als ihnen schnell und ohne viel Papierkram zu helfen.
Kein Wunder, dass die Menschen nach solchen Erfahrungen den Glauben an den Staat verlieren und das Vertrauen in die Politik sowieso. Insofern steht der Fall aus dem Ahrtal exemplarisch für den Zustand des Landes zu Beginn des Jahres 2025.
Rückblick: Donnerstag, 15. Juli 2021. Bis zum Mittag haben Melanie und Dominik keinen Kontakt, es gibt keinen Handyempfang im Ahrtal. Die Entfernung von Dominiks Elternhaus zu seiner Wohnung in der Bungertstraße beträgt Luftline vielleicht 500 Meter. Ein Winzer ruft Melanie zu: „Dein Mann und Deine Schwiegermutter haben mir gewunken, sie leben noch“. In dem Moment habe sie erst realisiert, dass „hier Menschen gestorben sind“. Das habe ihr „Kopf in der Nacht gar nicht zugelassen“.
Wenn vom Familienbesitz nur noch Trümmer bleiben
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel verspricht einen Tag später „unbürokratische Hilfe“. Zwei Monate später, am 16. September 2021, wird Anette und Josef Kalts Haus abgerissen. Die ersten Wochen wohnen Dominik und Melanie mit den Kindern und den Eltern bei Anettes anderem Sohn in Much im Bergischen Land, im August 2021 mietet die Familie eine Ferienwohnung an der Ahr an. „Die Vermieter sagten: Touristen kommen jetzt eh keine mehr“, erzählt Melanie.
Das Haus in Mayschoß-Laach war nicht gegen Hochwasser versichert, das Geld für den Wiederaufbau muss daher ausschließlich aus dem Wiederaufbaufonds des Landes Rheinland-Pfalz kommen, den die Bundesregierung wegen der „besonderen Notlage“ mit 15 Milliarden Euro befüllt hat. 80 Prozent des Neubaupreises übernimmt das Land, so die Regularien.
Anette Kalt und ihr Mann Josef, ein Handwerker, treffen eine weitreichende Entscheidung: Sie überschreiben das Grundstück an ihren Sohn Dominik. Er sollte wiederaufbauen, da er noch jung ist und leichter einen Kredit bekommt. Die ISB muss dieser Übertragung zustimmen, ohne ihr Einverständnis gibt es keine Förderung. Allein für die Zustimmung ließ sich die Wiederaufbau-Bank ein Jahr Zeit.
Erst im August 2022 beginnen die Kalts mit den Arbeiten und bauen das neue Haus 50 Meter weiter zurück hin zum Weinberg, den die Familie als Nebenerwerbsweinbau bewirtschaftet. Das Haus liegt damit zwar immer noch nah an der Ahr, es befindet sich aber in der sogenannten „blauen Zone“, in der man unter Auflagen bauen darf. Ein Wiederaufbau an dieser Stelle wird von der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB), die über die Mittelvergabe wacht und die Genehmigungen erteilt, bewilligt. Eine der Auflagen: Das Erdgeschoss darf wegen der Flussnähe aus Hochwasserschutzgründen nicht als Wohnung genutzt werden, sondern beispielsweise nur als Garage dienen.
Hohe Verschuldung im Vertrauen auf das Geld vom Land
Das neue Haus kostet 750.000 Euro, bei der Lage fast ein „Schnäppchen“, sagen Immobilienexperten. Im Vertrauen auf die Zusage des ISB nehmen Dominik Kalt und seine Frau Melanie einen Kredit in Höhe von insgesamt 600.000 Euro auf. Ein Teil davon, 100.000 Euro, gestalten sie als variablen Kredit, der jederzeit zurückgezahlt werden kann und nicht an Laufzeiten gebunden ist. „Dementsprechend sind die Zinsen natürlich auch höher“, sagt Dominik.