Die neue hessische Regierung will Sicherheitsbehörden Zugang zu privaten audiovisuellen Systemen geben. Verschlüsselte Kommunikation soll überwacht werden.
Die geplante schwarz-rote Koalition in Hessen hat sich auf ein umfassendes Überwachungspaket verständigt. Sie will damit unter anderem Sicherheitsbehörden wie Polizei und Geheimdiensten „in engen Grenzen und mit richterlicher Anordnung“ den „Zugang zu bestehenden privaten audiovisuellen Systemen“ gestatten. Fahnder und Agenten sollen so im Rahmen der bestehenden rechtlichen Befugnisse „beispielsweise die Wohnraumüberwachung durchführen“ können, heißt es im Koalitionsvertrag, den CDU und SPD am Montag unterzeichneten. Das Vorhaben erinnert an die umstrittene Initiative der Innenministerkonferenz 2019, intelligente Sprachassistenten wie Amazon Alexa, Google Home oder Apple Siri genauso anzuzapfen wie „intelligente“ Fernseher, Kühlschränke oder Türklingeln.
Befugnisse gegen „extremistische Bestrebungen“
Der Vorstoß findet sich unter dem Stichwort „smarte Polizei“ im Kapitel zu innerer Sicherheit durch einen starken Staat in der Koalitionsvereinbarung. Ernst machen will Schwarz-Rot auch mit der bereits nach den Sondierungsgesprächen im November angekündigten Ausweitung der Videoüberwachung. Sie soll eine „zielgerichtete Fahndung“ mithilfe von „Akustik, Mustererkennung“ und „intelligenter Technik“ für die biometrische Gesichtserkennung ermöglichen. Die neue europäische KI-Verordnung sieht dafür aber vergleichsweise enge Grenzen vor. Die große Koalition will zudem die Möglichkeit eines polizeilichen Lichtbildabrufs aus einem zentralen „Landes-Spiegelregister“ schaffen. Damit soll die Polizei auf Fotos aus dem Pass- und Personalausweisregister zugreifen können.
Starten wollen die Koalitionäre zudem einen Angriff auf Verschlüsselung: Die „vielfach kryptierte Kommunikation von Verfassungsfeinden“ macht es ihnen zufolge „zwingend erforderlich, moderne technische Maßnahmen“ – wie eine Server- oder Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) – auch für die nachrichtendienstliche Arbeit einzusetzen. Dabei wird die Kommunikation direkt auf einem Endgerät vor einer Verschlüsselung, nach einer Entschlüsselung oder direkt auf dem Server in der Regel über Staatstrojaner abgegriffen. Da extremistische Bestrebungen immer klandestiner agierten und die Vernetzung vorwiegend im digitalen Raum vorantrieben, brauche das Landesamt für Verfassungsschutz – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auf Basis einer richterlichen Anordnung – eine Befugnis zu heimlichen Online-Durchsuchungen.
Alle Erkenntnisse in die Polizei-Cloud
Geprüft wird auch die Einrichtung einer zentralen „Servicestelle zur Entsperrung beweisrelevanter Datenträger und IT-Systeme“, um die gewonnenen Erkenntnisse in die Polizei-Cloud einzustellen. Im Kampf vor allem gegen organisierte Kriminalität und Online-Hetze soll die Polizei zeitgerecht und automatisiert – auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) – große Datenmengen auswerten dürfen. Dafür soll das seit Jahren umkämpfte Projekt Hessendata, das auf der Palantir-Software „Gotham“ basiert, oder ein „vergleichbares Analysewerkzeug“ zum Einsatz kommen. Die Rechtsgrundlage für solche Instrumente soll ferner erweitert werden, um „vorhandene IP-, Maut- und sonstige Verkehrsüberwachungsdaten zur Verbrechensverfolgung“ nutzen zu können. Für eine Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen will sich die Koalition auf Bundesebene starkmachen.
Zudem möchte die Regierung dem Vertrag zufolge auf eine „bundeseinheitliche Strategie zum Datenschutz in Schulen“ hinwirken, damit dieser „nicht zur Digitalisierungsbremse wird“. So soll etwa „eine Positivliste für Software bereitgestellt werden“. Zugleich leitet die Koalition die „gemeinsame Überzeugung, dass digitaler Distanzunterricht den Präsenzunterricht und Computer die Lehrkraft nicht ersetzen können“. Sie will sich ferner über den Bundesrat dafür einsetzen, dass Unternehmen, Behörden und Vereine weiterhin „unentbehrliche Angebote“ von Social-Media-Plattformen, Standardsoftware oder Konferenzsystemen nutzen können. Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender des SPD-nahen netzpolitischen Vereins D64, kritisiert: „Der Koalitionsvertrag liest sich wie ein Wunschzettel konservativer Überwachungsfantasien.“ Grundrechte müssten auch im Internet gelten. Die hessische CDU regierte zuvor zehn Jahre mit den Grünen. Diese hatten sich bei vielen der nun vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen quergelegt.